Carl W. Tetting — Meine japanischen Kollegen (1925) 🇩🇪

von Carl W. Tetting
Wenn ich heute an die vielen, beinahe allzuvielen Eindrücke meiner mehr als einjährigen Fahrt durch den fernen Osten und die Südsee zurückdenke, so will es mir fast scheinen, als verdanke ich doch die nachhaltigsten Bilder nicht der lauen, verweichlichenden Umgebundenheit der Tropen, nicht der schier unermeßlichen Mannigfaltigkeit an Farben und Reizen der indischen Inseln südlich von Ceylon und nördlich von Australien, — sondern bereits wieder jenen Strichen Asiens, in denen die Zivilisation sich nicht mehr auf etliche wenige Europäerviertel beschränkt, sondern in ganz neuer, eigener und eigenartiger Prägung Vergleichsmomente zu der Kultur bot, die mir gewohnt und vertraut war. Zwar war die wilde Ursprünglichkeit auf den Inseln der holländisch-indischen Südsee mehr daheim, aber nicht sie fesselte auf die Dauer das an reglementierte Ordnung gewöhnte Gehirn europäischer Denkungsart, sondern eher und weit mehr war dies das Land des Mikado, das Land der aufgehenden Sonne: Japan. Hier war es, wo ich nach vielen Monaten der Ungebundenheit wieder unmittelbar das Wirken einer gestrengen Obrigkeit verspürte, und wenn diese Empfindung sich auch fast ausschließlich im Unterbewußtsein manifestierte, das Auftreten uniformierter Polizisten also durchaus nicht vonnöten war, so war sie doch in einer seltsam beruhigenden Weise vorhanden…
Japan wurde für mich, nachdem ich den weichen Boden der Südseeinseln hinter mir gelassen hatte, der Zentralpunkt asiatischer Zivilisation überhaupt, und wieder und immer wieder zwangen sich mir die Vergleichsmomente auf, ohne die man nun einmal kein fremdes Land dieser Erde zu betreten vermag. Es ist ja nicht erforderlich, daß diese Vergleiche irgendwelche Kritik in sich schlössen: viel eher glaube ich, daß bei so grundverschiedenen Kulturreisen jede Kritik vom Uebel wäre: papierne Häuser wären nun einmal an den Ufern der Havel undenkbar, und ein Eiffelturm vor das herrliche Bild des Fujijama gesetzt, würde unerträglich deplaziert wirken. Also — alles an seinem Ort… und alles zu seiner Zeit, selbst die Kritik…
Und das namentlich, wenn ich von — meinen japanischen Kollegea sprechen will. Es gibt hier ja so vieles, was man lernen kann, — lernen — trotz alledem. Zwar bewundern die Japaner die deutschen Leistungen durchaus, aber es gibt gewisse unterschiedliche Wertmesser, die die Produktion der beiden Länder und das Verständnis der Massen für den europäischen Film so entscheidend beeinträchtigen, daß fürs erste, wie ich glaube, kein allgemeingültiger Weg von hüben nach drüben geschaffen wird. Schon wenn ich mir vorstelle, daß die Japaner heute in ihrer gesamten Filmproduktion — und es gibt eine sehr große, eine sehr ansehnliche nationale Filmproduktion in Japan! — auf die altertümlichen Rittergeschichten eingestellt sind, so ergibt sich daraus ein beinahe verheerender Kontrast. Um das ganz zu begreifen, müssen wir uns die Voraussetzungen vergegenwärtigen, unter denen „meine Kollegen” in Japan arbeiten.
Der amerikanische Film hat in den japanischen Kinos eine sehr vorherrschende Stellung, doch befriedigt er naturgemäß nicht das Verlangen der japanischen Bevölkerung nach Spielhandlungen, die sich ganz und gar im japanischen Milieu bewegen. Solche Filme vermag das Ausland nicht zu liefern, mithin muß der Japaner sie selbst machen, und er muß sich dabei so einrichten, daß die Filme nicht zu teuer weiden, weil sie sich ja in Japan selbst rentieren müssen und nach dem Ausland unverkäuflich sind. Also haben die japanischen Filmgesellschaften, unter denen es große und kleine gibt, versucht, aus ihrem Volksleben allerlei Sujets auszuwählen, die sich filmisch behandeln und darstellen lassen. Da sie jedoch ein nur zu klares Gefühl dafür haben, daß ein japanischer Darsteller in dem Augenblick an Ueberzeugungskraft verliert, in dem er sich in den Frack zwängt — oder in dem die japanische Frau sich ganz und gar als Okzidentalin gebärdet, so sind auch heute noch rund — nun, ich möchte sagen: rund 99 Prozent aller japanischen Filme nach unseren Begriffen Kostümfilme, spielen also in den vergangenen Zeiten und zeichnen sich durch einen gewaltigen Aufwand pompöser Kostüme aus. Um einen solchen Film zu begreifen, muß man in die Geschichte der japanischen Kultur recht tief eingedrungen sein, man muß die Samurais wie seine eigenen Ahnen kennen — und darf sich nicht wundern, wenn diese Ritter einer vergangenen Epoche sich in jedem Filmakt mindestens zweimal in die Haare — oder was korrekter ausgedrückt ist: „in die Schwerter” kriegen.
Das ist der zweite kennzeichnende Hauptpunkt der japanischen Filmdramaturgie: es wird sehr viel gekämpft in diesen ostasiatischen Filmen. Es gibt, wie auf der Sprechbühne, so auch im Film, keine psychologischen Feinheiten in unserem Sinne, es gibt sogar in der Darstellung nichts rein Ausgearbeitetes, kein bedeutsames Augenzwinkern meinetwegen, keine leise, andeutungshafte Geste einer Hand oder eines Fingers; alles ist nach unseren Begriffen utriert und stark, überstark unterstrichen. Und da eine solche Grundeinstellung zur bewegten Handlung in wenigen Situationen erschöpft sein muß, müssen die japanischen Dramaturgen immer wieder auf das belebende Moment der Schwertkämpfe zurückgreifen. Es ist sehr sonderbar, daß die Japaner in den europäischen — oder allgemein gesagt: in den abendländischen Filmen jede Geste ohne weiteres richtig deuten, daß sie jede Handlung mehr oder weniger zutreffend kapieren, — in den japanischen Filmen jedoch fordern sie, vielleicht unüberlegt, jene Kundgebung der japanischen Mentalität, die relativ unkompliziert und ein leuchtend ist.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle eins hervorheben: das Verständnis des Japaners für die europäischen Filmhandlungen wird dadurch erleichtert, daß in den Kinos von Nippon, und selbst in den größten, die beinahe an die zweitausend Zuschauer fassen, noch immer der „Ansager” unerläßlich ist. Sei es, daß die Kinobesitzer hierzu gezwungen sind durch die vorhandenen Analphabeten, die die Zwischentexte doch nicht lesen können, — oder aber, daß die vorhandene Mehrheit nichtasiatischer Filme ipse facto einen Erklärer bedingt. Aus welchem Grunde ein europäisches Mädchen unglücklich ist, — das muß den Japanerinnen oft erst gesagt werden, da es Situationen gibt, die sonst einer Eingeborenen Japans unverständlich bleiben würden. Wie weitgehend die Wirkung nichtasiatischer Filme auf eine japanische Zuschauerschaft sein muß, kann man sich schon aus der Tatsache herleiten, daß man in Japan den Kuß nicht kennt, die junge Japanerin also ganz erschrocken aufzuschauen pflegt, wenn ihr im Film zum ersten Mal dieser ungewohnte und unerklärliche Vorgang gezeigt wird. Es gibt eine Zensurbestimmung drüben, die sogar die Vorführung solcher Kußszenen untersagt; von Zeit zu Zeit entsinnt man sich immer wieder darauf, daß dieser Ukas besteht, und ebenso oft pflegt man sich in Europa über das „Schamgefühl” Japans zu mokieren. Wer jedoch im Auge behält, daß der Kuß für sozusagen „nichtküssende” Völker ein Vorgang seltsamer Ideenverbindungen sein kann, wird für die Auffassung Japans erheblich mehr Verständnis als der vorschnelle Spötter aufbringen.
Die Erklärer in den Kinos von Tokio und Kyoto sind ein Beruf für sich: sie lernen die nicht ganz einfache Vortragskunst und bringen es darin zu großem Rufe, so daß manche Kinos ihren Ruhm geradezu den langjährig gedrillten Erklärern zu verdanken haben. Und mit der Sonderstellung dieser Kinoangestellten berühre ich gleichzeitig die soziale Stellung der Filmmenschen in Japan überhaupt. Ich komme also zu den eigentlichen Kollegen, — zu jenen vorzüglichen und interessanten Menschen, die ich in über sechsmonatiger Tätigkeit in Kyoto aus allernächster Nähe kennen gelernt habe.
Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn man von sich selbst sagen darf, der erste deutsche Schauspieler zu sein, der überhaupt in einem japanischen Ensemble auf japanischem Boden mitwirken durfte. Zwar gibt es eine größere Anzahl von Japanern, die nach Amerika oder auch nach Deutschland und Frankreich gegangen sind, um dort zu arbeiten, — nur an Hayakawa [Sessue Hayakawa (早川 雪洲)] sei in dieser Verbindung erinnert! — aber in Japan selbst haben sich die Regisseure der dortigen Gesellschaften stets auf einheimische Künstler beschränkt. Um so interessanter war es für mich, in die Lebensverhältnisse und Arbeitsgewohnheiten der Kollegen von drüben Einsicht zu nehmen, — und ich möchte annehmen, daß dieses Interesse in weitesten Kreisen geteilt wird.
Zunächst die augenscheinlich wichtigste Frage: welche Rolle spielt in Japan der Filmdarsteller? Ist er, wie bisweilen bei uns, der Löwe des Salons… oder — schrecklicher Gedanke, nicht wahr? — gibt es am Ende in Japan gar keine Salons…?
Ja, wie ich schon eingangs sagte: man darf die Länder dieser schönen und ebenso runden Erde wohl miteinander vergleichen, aber man soll aus den Vergleichen keine Kritiken auf „Besser” und „Schlechter” herleiten. Sonst käme Japan in unsern Augen wirklich zu kurz. Allerdings spricht man auch drüben viel von den Schauspielern, man kennt sie, man verehrt sie — und sie bekommen sicherlich auch eine ganz nette Anzahl von Briefen seitens Unbekannter, aber einen Salon in unserm Sinne gibt es deshalb doch nicht! Man kann —nein, ich will es anders sagen, ganz anders!
Etwa so: Es wäre unhöflich, einen Japaner danach zu fragen, ob er verheiratet ist… Und unbegreiflich indiskret wäre es sogar, zu erfragen, ob er Kinder hat. Das Familienleben ist drüben eine ganz private Angelegenheit, und demzufolge blüht auch — die Frau im Verborgenen. Man bedarf der Frau, irgend einer Frau, bisweilen zur Unterhaltung, man engagiert, wenn etliche Herren sich treffen, für die Nachmittagstunden einige Geishas, die servieren, unterhalten, tanzen und dann wieder nach Hause gehen, — aber die eigene Frau, insofern eine solche vorhanden ist, taucht kaum je auf. Wohlverstanden: ich spreche von der Masse des Volkes, — in den höchsten Kreisen von Adel und Diplomatie mögen andere, europäischere Sitten Platz gegriffen haben. Sonst aber schaut die Frau schüchtern und halbängstlich zum Manne wie zu einem erhabenen Wesen empor — und wagt es kaum, sich ihm… aufzudrängen, sich ihm anzutragen. Es gibt keine Geselligkeit in unserem Sinne, kein Courschneiden der Geschlechter, sondern man trifft wieder und immer wieder — den Mann, den Mittelpunkt des ganzen künstlerischen und gesellschaftlichen Lebens.
Also — , die Bewunderung, die den prominenten Filmdarstellern gezollt wird, hat ihre ziemlich engen Grenzeen. Und noch etwas spielt in diese Begrenzung hinein. Der Beruf des „Kadzido yaksha”, des Filmdarstellers, ist drüben ein reichlich bürgerlicher. Im alten Europa verbindet man mit ihm, sei es mit Recht oder mit Unrecht, gewisse Vorstellungen flotten Bohemientums, — im noch älteren Asien kennt man diese Vorstellung nicht. Und man wird sie wahrscheinlich nie kennen lernen. Weshalb?
Das verhält sich wiederum folgendermaßen: um billig zu arbeiten — und auf die billige Arbeit sind die japanischen Gesellschaften angewiesen, wie ich bereits anführte! — , muß der japanische Filmproduzent die Gagen seiner Mitwirkenden möglichst niedrig halten. Er darf also nicht den europäischen und amerikanischen Star-Fimmel großzüchten, sondern engagiert die Künstler wie die erstbesten Büroangestellten mit monatlichem Gehalt. Alle Filmdarsteller Japans stehen im festen Engagementsverhältnis, und das Durchschnittsgehalt stellt sich auf etwa 500 Yen, also auf etwa: 850 Mark. Das ist, so bescheiden es klingt, ein recht erhebliches Quantum Geld, wenn man die modesten Ansprüche aller Japaner im Auge behält und berücksichtigt, daß das Leben drüben überhaupt nicht kostspielig ist. Der Schauspieler wird sich natürlich etliche Hausangestellte halten, da er von früh bis spät abends im Atelier ist und seine Arbeit ihn viel umfangreicher in Anspruch nimmt, als dies bei uns von einem Schauspieler denkbar ist, — aber die Diener sind gleichfalls sehr billig zu haben. Er braucht vielleicht einen Boy, der seine persönlichen Sachen in Ordnung hält, dann einen Koch, und vielleicht noch sonstwen, — und jeder dieser Angestellten erhält pro Monat 25 Yen, dazu in der Regel die Verpflegung. Was aber essen diese bescheidenen Asiaten schon? Reis — dann etliche Beilagen — und abermals Reis… Die Dienerschaft ist drüben das anspruchsloseste, was man sich denken kann. Und wenn der Filmschauspieler nun noch ein eigenes Häuschen besitzt, so kostet das, auf etwa 8 Zimmer geschätzt, auch nur 35 bis 40 Yen Miete monatlich. Er kann mithin mit 500 Yen sehr bequem auskommen — und vermag noch zu sparen. Und wenn ein Star erster Ordnung, ein Kassenmagnet, gar 1200 bis 1500 Yen im Monat verdient, so ist dies bereits der Gipfel der finanziellen Leistungsfähigkeit überhaupt — und gleichzeitig wirklich auch der Gipfel denkbarer Ansprüche.
Dafür hat sich der Künstler nun den ganzen Tag und die ganze Nacht zur Verfügung zu halten; irgendwelche Nebenarbeit oder eine Tätigkeit bei der Konkurrenz kommt nicht in Frage. Während bei uns beinahe jeder Film-Prominente noch seine Bühnentätigkeit nebenher weiterführt, ist dies in Japan nicht möglich: der Filmmensch hat sich dem Unternehmer mit Haut und Haar verschrieben. Zwischen Bühnen- und Filmdarsteller ist ein scharfer Trennungsstrich gezogen.
Und dies hat sogar Geltung in Bezug auf die Komparsen. Der japanische Statist verdient blutwenig, er hat vielleicht 50 Yen im Monat, vielleicht auch, wenns sehr hoch kommt, 100 Yen, — aber er ist damit zufrieden… und meckert nicht. Das Meckern ist überhaupt eine sehr europäische Angelegenheit. Der japanische Künstler hat vor seinem Regisseur eine so gewaltige Achtung, daß er nicht einmal den leisesten Widerspruch wagen würde. Vielleicht kommt das daher, daß alle japanischen Regisseure der Bühne entstammen, — vielleicht hat es aber auch in dem ganz auf Disziplin gestellten Temperament des Japaners seine Begründung. Befehle und Anschnauzer im europäisch-amerikanischen Sinne sind drüben unmöglich, — man darf boshaft sein, aber man muß es in konzilianter Weise zum Ausdruck bringen; man muß „bitten” — selbst in der Ruppigkeit.
Was das heißt, obwohl die japanische Filmindustrie zum größten Teil ohne weibliche Stars arbeitet, wird selbst der smarteste Angelsachse ermessen können. Der gute Ton rührt also in Kyoto nicht von der Rücksicht auf das zarte Geschlecht her, sondern ist ein als „Ding an sich” erstrebenswertes Charaktermerkmal. Frauen findet man zwar nach dem letzten Erdbeben in zunehmendem Maße auf der Sprechbühne und im Film, aber ihre Zahl ist immerhin noch verschwindend gering genug. Das Vorurteil des Japaners gegen die Frau auf der Bühne behauptet sich nach wie vor, und wenn es sittliche Momente sind, die zugunsten dieser alten Abneigung gegen die Mitwirkung der Frau vorgebracht werden, so darf man doch an dieser Stelle davon überzeugt sein, daß die zurückhaltende Position der japanischen Frau sich nirgendwo schneller durchbrechen lassen wird, als auf dem Gebiete der darstellenden Kunst…
Auch der japanische Kollege von der Regie weicht in seiner Funktion recht beträchtlich vom deutschen Regisseur — oder vom sonstwie internationalen Filmregisseur ab. Gewissermaßen nämlich ist der Japaner, wenn er den Spielleitungsstab schwingt, nur der oberste Befehlshaber; — der eigentliche „Vorbeter” ist — der männliche Hauptdarsteller.
Jawohl: — der männliche Hauptdarsteller.
Man stelle sich einmal vor, daß ein deutscher Prominenter — schön, nennen wir Veidt oder Jannings [Conrad Veidt | Emil Jannings], von seinem Regisseur herbeizitiert wird, um folgende Ansprache entgegenzunehmen:
„Bitte, — wir fangen morgen früh um acht Uhr an… Ich brauche sieben Komparsen, die dies und das und das anhaben… Sie werden, bitte, dafür sorgen, daß dies und dies und sonst noch was zur Stelle ist… Wenn der Komparse Y. wieder einen Fleck an seinem Kimono hat, so müßte ich Sie dafür verantwortlich machen! Bringen Sie, bitte, den Leuten bis zum Anfang der Arbeit bei, daß sie dies und das und das auszuführen haben; bei dem Kollegen X. fehlte mir heute die Innerlichkeit beim Degenstechen, — studieren Sie, bitte, auch das mit ihm bis morgen früh ein, ja?”
Wie gesagt, — man stelle sich vor, daß diese Ansprache an Veidt oder an Jannings gerichtet würde. Was täte ein jeder von ihnen? Er würde zum Regisseur sagen: „Mein Lieber, faß Dir mal an Deinen Kopf, ob der noch da ist!”
Aber — der japanische Prominente pariert, denn es ist sein Amt, die Komparsen… zu bestellen, die Kollegen zu unterrichten… und mehr noch: sie zu bezahlen! Alles das also, was bei uns der Aufnahmeleiter besorgt, geht in Japan zu Lasten des Darstellers erster Ordnung. Der Regisseur gibt ihm, dem Prominenten, dem Hauptdarsteller, die Anweisung, die andern Mitspielenden einzudrillen, und dieser wäre höchst beleidigt, wenn der Spielleiter zu ihm nicht das Vertrauen hätte, daß alles bestens geschieht. Daß er dann für jeden befleckten Gobi, für jeden Gürtel der Mitdarsteller verantwortlich ist, verschlägt ihm wenig. Und er findet sich sogar damit ab, daß er als einziger Darsteller jeden Aufnahmetag von morgens bis abends anwesend zu sein hat.
Der europäische Film-Prominente arbeitet bisweilen in der Woche drei Aufnahmestunden, er ist bisweilen von sechs Tagen in der Woche einen einzigen im Atelier, und er kümmert sich um nichts, um wirklich nichts außerhalb seiner Rolle. Der japanische Kollege aber läuft und spritzt hin und her… — und weiß gar nichts davon, daß er es eigentlich doch herzlich schlecht hat.
Was auf mich während der praktischen Arbeit in den künstlich zumeist nicht sonderlich gut beleuchteten Ateliers den hervorragendsten Eindruck gemacht hat, ist die Fertigkeit der Japaner, Masken zu machen. Ich glaube, daß kein Volk der Erde den Japanern darin gleichkommt. Ob es sich nun um einen Heldenvater, um einen schüchternen Liebhaber oder um einen Charakter-Darsteller handeln mag, — immer ist die Maske von einer erstaunlichen Durchdachtheit, von einer geradezu frappanten Wirkung. Ganz besonders ist mir eine Maske im Gedächtnis haften geblieben, die eines Geistes. Sie ist bezeichnend für die Forderungen, die überhaupt an die darstellende Kunst Japans gestellt werden: der Geist spielt eine bedeutsame Rolle in vielen Stücken. Manchmal greift er zum Guten, manchmal zum Bösen ein, immer aber wird sein Kommen mit einem allgemeinen Schaudern von der ersten bis zur letzten Bank bemerkt. Wie denn überhaupt der japanische Zuschauer weit ursprünglicher mit den Fabeln mitzuleben und das Eintreten eines vielleicht erwarteten Ereignisses mit ganz impulsiven Kundgebungen zu begleiten pflegt. Um zum Geiste zurückzukehren: die Maske des Bösen, die ich sozusagen als Anschauungsobjekt im Bilde mitgebracht habe, war von derart entnervender Wirkung, daß die Vermutung naheliegt, nur durch unendliche Ausprobungen kann ein solches Widerspiel zustande gekommen sein.
Durchweg benutzen die japanischen Filmschauspieler an stelle der bei uns gebräuchlichen Fettschminken Wasserschminke. Sie tragen die Farbe, zumeist weiß, in ganz breiten Pinselstrichen auf die Gesichtshaut auf, warten einige Augenblicke, um der Paste Zeit zum Eindicken zu lassen, und verreiben sie dann mit einer weichen Bürste. Auf diese Weise kommt ein kaum glaublicher, faltenloser Belag zustande, der jeder Temperatur widersteht. Je nach Erfordernis werden alsdann die Augenhöhlen mit mattem Rot ausgelegt, die Wangen nach Bedarf hell- oder dunkelbraun — und die Lippen…
Ja, wie wohl die Lippen?
Wieder können wir einen Unterschied gegenüber den sonstigen Filmgepflogenheiten feststellen: der japanische Filmdarsteller schminkt sich die Lippen überhaupt nicht, die Frau schminkt sich nur die Unterlippe. Aus welchem Grunde dies geschieht, habe ich nicht ergründen können; wahrscheinlich kommt hier ein altes Schönheitsideal zum Ausdruck, wie man denn ja überhaupt bei der Verschminkung an die Ausformung irgendwelcher geheimen Schönheits- und Charakter-Ideale zu denken hat. Auch im wirklichen Leben schminken sich die Geishas nur die Unterlippe: die Bühnen- und Filmgepflogenheit ist somit ganz und gar der Koketterie des echten Lebens entlehnt.
Weiter oben sprach ich davon, daß wir in Japan vergeblich so etwas wie einen „Salon” suchen würden, jenes behagliche Zimmer, in dem sich die Bewohner eines Hauses zu gastlichen Zwecken versammeln und ein wenig über den Tag hinweg zu geistreicheln versuchen. So leicht und einfach sich dieses Faktum auf dem Papier ausnimmt, so schwerwiegend ist es doch, wenn man sich monatelang in japanischen Häusern zu beliehen hat. Die Abwesenheit von Möbeln empfinden wir nur zu sehr, und dankbar begrüßen wir die Liebenswürdigkeit der Japaner, die uns ohne weitere Aufforderung etliche europäische Möbel in die Räume hineinsetzen. Sonst müßten wir unsere Lebtage auf weichen Matten verbringen, uns beim Essen niederknien — und die Nächte abermals auf Matten breitdrücken. Da die Wände durchweg von Papier sind, erfährt die Behaglichkeit einer zwanglosen Unterhaltung sowieso hinreichende Einbuße.
Aber all diese Monotonie des japanischen Wohnraumes drückt sich auch in der Filmregie aus: der japanische Film-Architekt hat eine sehr einfache Arbeit. Mag hier und da durch die Form des Ofens auch einmal der Raum eines Wohlhabenden sich von dem eines einfachen Bürgers unterscheiden, so ist doch darüber hinaus ein jeder Raum so rücksichtslos „normalisiert”, daß für Variationen kaum „Zeit und Gelegenheit” bleibt. Ich habe bisweilen in den japanischen Filmateliers auch Durchblicke durch mehrere Räume gesehen, Durchblicke bis zu etwa 35 Metern Tiefe, — aber die Zimmer selbst glichen sich immer wieder: stets waren die Wände gleich hoch, die Räume nach bestimmten Verhältnissen ausgemessen, die Fenster unvariabel im Aussehen. Die Arbeit selbst wird dadurch weiter vereinfacht, daß unsere japanischen Kollegen wenig mit Kunstlicht arbeiten, dafür aber dem Tageslicht alle nur erdenkbaren Effekte abzugewinnen wissen: ein japanischer Operateur ist der reine Tausendkünstler, wenn es darum geht, die Sonne in den Mond zu verwandeln.
Nur einer weiß auch mit dem Kunstlicht verschwenderisch umzugehen, nämlich der Kinobesitzer. In der Außenreklame leistet der japanische Kinobesitzer das Unmögliche, und er wird hierbei noch sehr unterstützt durch den eigentlich sonderbaren Umstand, daß in einer jeden japanischen Stadt alle öffentlichen Gebäude von Bedeutung in einer einzigen Straße zu liegen pflegen. Denke ich an die Hauptstraße in Kyoto, die etwa die Länge von anderthalb Kilometern haben mag, so liegen da nicht weniger als 18 bis 20 Lichtspielhäuser, rund 15 Theater, 6 bis 8 Tempel, sehr viele billige Speisewirtschaften und noch viel Bijouterieläden nebeneinander. Fällt man aus dem einen Theater heraus, so stolpert man unweigerlich in das gegenüberliegende Kino hinein. Da nun jeder Vergnügungsunternehmer auf eigene Faust Reklame macht, so kommt hier ein nettes Tohuwabohu von Schall-und Lichtwellen zustande. Und die Schallwellen stehen hierbei nicht zurück: an Lautsprechern vor den Kinos ist kein Mangel, und damit, wenn die Akustik wirklich einmal nachläßt, die Geräusche nicht etwa abebben, sind hier und dort die Straßenbäcker postiert, die selbstverständlich gleichfalls allerlei anzupreisen und anzubieten haben. In Kobe, in Tokio, in Nagasaki — überall herrscht das gleiche Bild, überall drängen sich die Reklamen neben- und übereinander. Und überall, betritt man das Kino, wird man von dem eigenartigen Klang der einheimischen Musikkapellen empfangen, den Samsing- und den Trommelgeräuschen, für die das europäische Ohr so gar keine Mitempfindung aufbringt. Erst vor kurzem hat ein Lichtspielpalast in Kyoto den Versuch gemacht, einen europäischen Kapellmeister und europäische Musik nach Japan zu importieren, und gegenwärtig ist man drauf und dran, zu studieren, ob die Einheimischen mit dieser Neuerung mitgehen wollen — oder ob sie die Gefolgschaft versagen.
Schon um 3 Uhr nachmittags beginnt die Abrollung des Programms, und um 11 Uhr wird der letzte Akt in die Trommel zurückgerollt. Meistens sind es ein amerikanischer und zwei japanische Filme, die das Programm ausmachen, hinzu kommt bisweilen noch eine aktuelle Woche, etwa der deutschen Deulig-Woche entsprechend, und für den ganzen Genuß schwanken die Eintrittspreise zwischen 20 Sen und 1,50 Yen.
Selbst an den Tagen, an denen die Darsteller erscheinen, gelten diese Preise; und das sind nicht nur die Tage der Premieren mit ihrem Blumenzauber, sondern auch gewöhnliche Spieltage. Da aber die Schauspieler ohne jeden romantischen Reiz sind, deutet man nur auf sie hin, macht sich gegenseitig auf sie aufmerksam, bleibt jedoch im übrigen — kühl bis ans Herz hinan… Und das, so scheint’s, ist etwas, das am schwersten wiegt. Gewiß offenbart sich hierin am deutlichsten die bürgerlich eingegliederte Stellung des japanischen Schauspielers, und so sehr man sonst geneigt ist, die Voraussetzungen der japanischen Filmproduktion unter die Lupe zu nehmen, — so sehr wird man doch angesichts des Kadzido yaksha erleichtert aufatmen: „Gott sei Dank, — das hier ist das Land, in dem es keine falschen Phantastereien über das Tagewerk eines Filmschauspielers gibt!”
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Fotos:
- A: Vor einem Lichtspielhaus in Tokio
- B: Ein Samurai-Darsteller
- C: Japanischer Heidenvater
- D: Jugendlicher Held (Samurai)
- E: Japanischer Darsteller in einer Frauenrolle
- F: Jugendlicher Held in kostbarem Kimono
- G: Schüchterner Liehhaber mit Lampe und Reis-Eßtischen in den Händen
- H: Kunstvolle japanische Maske des „bösen Geistes”
Collection: Filmland Magazine, May 1925
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Carl W. Tetting’s East Asia diary: