Carl W. Tetting — Als Filmschauspieler bei den Japanern (1925) 🇩🇪

Carl W. Tetting — Als Filmschauspieler bei den Japanern (1925) | www.vintoz.com

June 27, 2025

von Carl W. Tetting

Zuerst muß ich beichten: Als ich meine anekdotischen Einzelheiten Hin und Her im Fernen Osten schrieb, glaubte ich, ich würde sie bereits in Aden zur Post geben können, weil nämlich für unsere Expedition in Aden ein kurzer Aufenthalt geplant war. Aber wie so oft während unserer einjährigen Filmexpedition nach dem Fernen Osten, so wurde auch dieses Mal der Reiseplan geändert. Rund herausgesagt: wir fuhren erst gar nicht ab. Ich schrieb vor vier Monaten: „Noch umgibt uns die traumhafte Weiche des Indischen Ozeans…”, und als ich dies schrieb, fühlte ich bereits wieder den Stimmungszauber voraus, den ich auf der Hinfahrt nach Java und Borneo empfunden hatte. Ich hatte die egoistische, aber begreifliche Absicht, mir die Zeit unserer Rückfahrt nach Aden dadurch zu verschönen, daß ich den Reisebrief schon vor unserer Abfahrt aus Japan in Angriff nahm. Und was ist daraus geworden?

Nachdem ich den Brief in den Kasten geworfen hatte, hieß es plötzlich: „wir bleiben in Japan!” Und während ich nun, einem plötzlichen Angebot folgend, mit einer japanischen Filmgesellschaft zusammenarbeitete, während Loo Holl und ich im Kreise japanischer Kollegen arbeitsreiche und auch schöne Stunden verbrachten, — schwamm mein Brief bereits über den Ozean, schwamm über das Mittelländische Meer und erreichte endlich sogar Berlin, ohne daß ich auch nur das Geringste tun konnte, mich selbst zu dementieren.

Heute endlich will ich das nachholen. Also wir sind in Japan geblieben, und noch heute sitze ich unweit der interessantesten Stadt Japans, Kyoto, der Stadt der achthundert Tempel, welche inmitten von Bergen und Reisfeldern in einer wundervollen Landschaft gelegen ist, in unserem japanischen Häuschen, das ganz aus Papier und dünnem Holz gebaut ist, Nach über einhalbjähriger Reise über die Schweiz, Italien, Aegypten, Ceylon, Sumatra, Java, Celebes, Borneo, die Philippinen und China rasten wir hier in einem der schönsten und interessantesten Teile der Erde einige Wochen, um Atem zu holen und Vorbereitungen zu treffen für eine neue und große Aufgabe. Ueber die fachlichen Einzelheiten des bisher Erlebten und Gesehenen, über die Schwierigkeiten unserer indischen Expedition, über all die Strapazen im Niederländischen Archipel wird Karl Heiland selbst eine ausführliche Schilderung senden; ich möchte nur über Japan plaudern, über dieses gastfreie und malerische Land, in dem wir jetzt bereits über ein Vierteljahr leben und arbeiten.

Hart hat uns das Leben mitunter angefaßt, das können Sie mir glauben, vieles liegt heute hinter uns. Aber nicht von den Strapazen, Entbehrungen und Unannehmlichkeiten einer Filmreise nach Ostasien will ich berichten; darauf waren ja alle Expeditionsteilnehmer bei der Ausreise gefaßt. Auch nicht von den Geldkalamitäten, die, durch die deutsche Bargeldkrisis, sich trotz guter Verträge natürlich auch bei uns sehr, sehr unangenehm bemerkbar machten, will ich schreiben. Ich will mich mit einer Schilderung Japans begnügen, und ich will es so abzeichnen, wie es sich in den Augen eines unvoreingenommenen Film-Europäers spiegelte.

Bei unserer Ankunft im Juli fanden wir von Yokohama weniger als einen Trümmerhaufen.

Das furchtbare Erdbeben am 1. September 1923 und die dadurch verursachte Feuersbrunst haben Yokohama ganz, und das in unmittelbarer Nähe liegende Tokio zum großen Teil vernichtet.

Das Erdbeben brach genau um 12 Uhr mittags aus und dauerte nur 3 Sekunden. Fast alle massiven Häuser der Stadt brachen zusammen, und die Trümmer begruben und verschütteten die Bewohner. Da um die Mittagszeit fast in jedem Hause Herdfeuer in Betrieb waren, und da Kurzschluß der elektrischen Leitungen hinzukam, brachen Tausende von Einzelfeuern aus, die durch einen gleichzeitig aufgekommenen starken Taifun Tokio und seine Hafenstadt Yokohama in ein einziges, großes Flammenmeer verwandelten. Unsere heutigen japanischen Freunde, die diese wohl furchtbarste Katastrophe aller Zeiten miterlebten, schilderten uns alle grausigen Einzelheiten. Eine hier kürzlich erschienene amtliche Statistik nannte die Zahl von 125 000 Todesopfern, jedoch wird allgemein behauptet, daß diese Zahl noch viel zu niedrig gegriffen wäre. z. B. fand man an einer Stelle zwischen Tokio und Yokohama 30 000 Leichen, die in mehreren Schichten übereinander Lagen. Man erklärte sich dies dadurch, daß diese Unglücklichen vom Feuer eingekreist wurden und dieses, sich immer mehr und mehr dem Mittelpunkte nähernd, die eingeschlossenen Menschen zusammentrieb, bis auch der Mittelpunkt in Flammen aufging. Die Mädchen von Yoshiwara sind fast alle eingeschlossen verbrannt, bis auf einige Dutzend, die in ihrer Todesangst in einen kleinen See sprangen, der auch endlich von der immer kreisförmig näherrückenden Feuersbrunst buchstäblich trocken gelegt wurde, nachdem zuvor das Wasser mit allen darin befindlichen Menschen kochte.

Man hatte aus erklärlichen Gründen genaue Schilderungen dieses entsetzlichen Ereignisses und Angabe von zahlen seitens der japanischen Fegierung verhindert. Heute, nach Jahresfrist, hat sie große Zahlungen an Unterstützungen, an Hinterbliebene und Verunglückte, Arbeitsunfähige u. s. w. zu leisten, wodurch sich eine stark abfallende Tendenz des Yen, der in der früheren Zeit 2,10 Mark stand und heute nur noch mit 1,50 Mark bewertet wird, bemerkbar macht. — Auch ist natürlich eine Bargeldknappheit nicht ausgeblieben.

Da auch heute noch, besonders in der Gegend von Yokohama, starke Erdstöße wahrgenommen werden, hat selbstverständlich niemand den Mut, neue größere Gebäude zu errichten; man sieht daher fast nur neue Holzbaracken an ungepflasterten Straßen. Wer es sich erlauben kann, wandert ab und siedelt nach Kobe, Osaka oder Kyoto über. Diese Städte nehmen daher bedeutend zu. Das japanische Volk, das mir von allen Rassen, die ich auf der Reise kennengelernt habe, die sympathischsten Menschen zeigte, hat das große Unglück mit Heroismus ertragen und arbeitete energisch am Wiederaufbau. Am 1. September d. J. um 12 Uhr mittags ertönten in ganzen Lande Glocken, Dampfsirenen und -Pfeifen der Fabriken; der ganze Verkehr, alle Bahnen und alle Straßenpassanten standen fünf Minuten still, natürlich auch alle hier lebenden Ausländer. Man hatte Mitgefühl und teilnehmende Sympathie mit dem Volke, das vor Jahresfrist von dem furchtbarsten Unglück, das die Welt seit ihrem Bestehen kennt, betroffen wurde.

Nach kurzem Aufenthalt in Yokohama fuhren wir mit dem Expreß — ca. 10 Std. — nach Kyoto, der sehenswertesten Stadt Japans, und bezogen Quartier in einem japanischen Hotel.

Ein japanisches Häuschen mutet wie ein Spielzeug an. Peinlich sauber sind die Tatamis (aus Reisstroh geflochtener Fußbodenbelag), die Wände aus ganz dünnem Holze, Fenster und Schiebetüren aus Papier. Man sitzt, ißt und schläft auf der Erde. Für uns Europäer ist dies kein Vergnügen von langer Dauer.

Unsere Ankunft in Kyoto erregte bei der rein japanischen Bevölkerung großes Aufsehen. Die Stadt hat ca. eine Million Einwohner; nur 15 Ausländer, davon zwei Deutsche, leben hier ständig. Hunderttausende der hiesigen Japaner haben noch nie in ihrem Leben einen Europäer gesehen, Ganz besonders auf dem Lande, in der Nähe Kyotos, wohin wir kürzlich zu längerem Aufenthalt übersiedelten, sind die Leute sprachlos vor Erstaunen. Hält unser Auto irgendwo oder machen Lo Holl und ich in einem Geschäft Einkäufe, so sammeln sich große Menschenmengen an, wie es vielleicht auch in Berlin wäre, wenn in der Tauentzienstraße plötzlich eine Geisha in ihrer malerischen Kleidung: seidener Kimono, riesig breiter Gürtel mit kunstvoller Schleife auf dem Rücken (Obi genannt), hohen Holzsandalen (Getas) und phantastisch turmhoher Frisur, erscheinen würde. (Jetzt sehe ich doch, was wir für Fehler gemacht haben, als ich vor Jahren einige hundert Male in der „Geisha” in Berlin spielte! So sieht im Leben keine richtige Japanerin aus, wie unsere Bühnen-Geishas.

Aber auch dieser Vergleich mit der Geisha in der Tauentzienstraße sagt noch nicht alles. Niemals könnte ein Berliner so ein erstauntes Gesicht machen, wie ein Japaner, wenn er etwas Neues sieht. Was dem zierlichen, schwarzhaarigen, dunkeläugigen Japaner wohl besonders bei uns auffällt, ist Loos Blondheit und meine Größe. Nachdem nun noch die Zeitungen lange Artikel mit unseren Bildern gebracht haben, in denen man in sehr sympathischen Worten über die Deutschen schrieb, die gemeinsam mit einer bekannten japanischen Filmgesellschaft einen Spielfilm machen, ist es tatsächlich wiederholt vorgekommen, daß ein Schutzmann die sich um uns herumdrängende Menschenmenge auseinandertreiben mußte.

Jetzt, in der schönsten Jahreszeit — in Japan wird erst Mitte Januar Winter — reisen wir für die Außenaufnahmen zu den sehenswertesten Punkten. Vor einigen Tagen waren wir auf dem Fuyiyama (hier Fuyisan genannt), der ja zu den weihevollsten Berühmtheiten der Welt gehört.

Diese Reisen im Expreß oder im Auto, gerade jetzt, wo Ahorn und andere Laubwälder in einer Fracht von knallroten, gelben, orangenen oder grünen Farben stehen, kann ich mit Worten nicht beschreiben. Von Japans landschaftlichen Reizen im November kann man nur im Lande selbst sich einen Begriff machen.

Nun, da ich diese Zeilen schreibe, ist der erste deutsch-japanische Film zur guten Hälfte fertig. Wie schnell vergeht doch bei den täglich wechselnden Eindrücken die Zeit hier draußen; wie bald wird der Tag der endgültigen Heimreise nach Westen heranrücken! Noch einige Tage des persönlichen Auftretens, in den großen japanischen Kinos bei der jetzt schon mit Spannung erwarteten Uraufführung, und dann gehen wir an Bord des Norddeutschen Lloyd-Dampfers „Derfflinger”. Fünfzig Tage wird es etwa dauern, bis wir einen europäischen Hafen anlaufen, aber auf diesem schwimmenden Sanatorium mit all seinem Luxus wird uns diese Zeit, wenn wir an die angenehme Ausreise mit dieser deutschen Linie denken, sicherlich sehr schnell vergehen. Nach all den langen Land- und Seereisen über die größten Ozeane sind wir schließlich, müssen wir das offen zugeben, doch schon etwas auslandsmüde, und ein Gefühl, dem Heimweh nicht ganz unähnlich, hat uns heute wohl alle beschlichen.

Gegen Ende Februar oder Anfang März werde ich wieder deutschen Boden unter den Füßen haben, und bis dahin drücke ich allen Freunden herzlichst die Hand!

Fotos:

  • A: —
  • B: Sämtliche Illustrationen zu diesem Artikel, der uns „via Siberia” zuging, wurden von dem japanischen Photographen der Toa-Makino-Film-Gesellschaft (Transcriber’s Note: see Shōzō Makino | 牧野省三) in Kyoto angefertigt. Die Photos haben als Dokumente des ersten Zusammenarbeitens deutscher und japanischer Filmdarsteller dauernden historischen Wert.
  • B: Das nebenstehende Bild zeigt Loo Hall mit ihrem japanischen Gegenspieler, an dem namentlich die typische Schauspielertracht, die immer wiederkehrt, auffällt — Der Film wird in absehbarer Zeit auch in Deutschland gezeigt werden.
  • C: So sieht eine wirkliche Geisha aus!
  • C: Loo Holl und Carl W. Tetting vor der Burg Himeji in Japan.
  • D: Carl W. Tetting mit seiner japanischen Kollegin Teru-Ko-Makino [Teruko Makino] in Kyoto
  • E: Eine wilde Aufnahme am Fuße des heiligen Berges Fuyiyama (links sitzend: Loo Holl; rechts im hellen Jackett: Heiland; zu Pferde: Tetting)
  • E: Die Höflichkeit verursacht bisweilen sogar Verkehrsstörungen: Tetting wird von den Hoteldienerinnen (Nesans) sehr formell begrüßt

Collection: Filmland Magazine, February 1925

Carl W. Tetting’s East Asia diary:

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