Carl W. Tetting — Hin und Her im Fernen Osten (1924) 🇩🇪

Carl W. Tetting — Hin und Her im Fernen Osten (1924) | www.vintoz.com

June 27, 2025

von Carl W. Tetting

Mein japanischer Lehrer saß vor mir, hielt mir die Uhr unter die Augen, deutete auf dem Zifferblatt herum und betete her: „Nan doki des?” Er meinte damit: Wieviel Uhr ist es?” Ich lachte ihn aber an und hob die Schultern… Wozu japanisch lernen? Und wozu sich so kompliziert ausdrücken? Jedoch Heinz Karl Heiland hatte mir da eine Sache nachgewiesen: ich sollte mit Loo Holl gemeinsam die europäischen Hauptrollen in einem japanischen Film spielen, und deshalb müßten — so sagte er — wir beide unbedingt die Landessprache sprechen. Loo Holl, auch sonst meine Leidensgefährtin auf dieser unabsehbar langen Ostasien-Filmfahrt, zuckte gleich mir die Achseln und meinte: „Well —, lernen wir!”

Aber auch sie scheute vor dem „Nan doki des?” des Japaners. Es gibt, so meinte sie, wenn Heinz Karl Heiland nicht dabei war, — es gibt Dinge, die man nicht in den Mund nimmt. Und sie nahm, abgesehen von der Speise, nichts Japanisches in den Mund. Sie war konsequent darin. Ji — heißt Zeit, schlechtweg Zeit. Ichi — heißt eins, Ni — heißt zwei, san — heißt drei… Gut! Aber nun: ichi ji heißt mit einem Male nicht mehr „zwei Zeit”, sondern „zwei Uhr”… Und warum?

Der Japaner lachte und sah mich an, als ich „why?” fragte. Nun hob er die Schultern: warum das so hieß, wußte auch er nicht zu sagen. Und da, wo selbst einem Japaner das Latein ausging, sollte ich mir den Kopf zerbrechen? Fiel mir nicht ein. Ich packte Loo Holl am Arm und zog sie auf die Straße hinaus: „Laß den Quatsch, wir gehn lieber bummeln!” sagte ich. Da stürzte uns der Japaner nach und rief: „Sukoshi mate… shi zuka ni iki!” Und so etwas hatte ich lernen sollen? Der Mann hätte meine Schulzensuren im Griechischen sehen müssen! Ich habe sie nachher Heinz Karl Heiland gezeigt — nicht etwa in natura, denn die Zettel hatte mein Vater längst zerrissen, sondern nur in getreuer, zahlenmäßiger Nachbildung! Heiland sah sich die Ziffer an, betrachtete dann mich — das Leben besteht ja zum großen Teil aus gegenseitigem Ansehen —, und meinte dann langsam: „Aus dir wird nie ein ordentlicher Schauspieler werden, mein Junge!”

Es gibt Dinge, über die man mit einem Regisseur nie streiten soll; eins dieser Dinge ist das Talent. Balik Papan liegt auf Ostborneo, es ist auf keiner Karte verzeichnet, wir haben es sozusagen entdeckt. Jammerschade, daß dieser Ort schon einen Namen hatte! Man bedenke, was es hieße, wenn dieser Ort nach dem Beispiel Amerikas, das seinen Namen ja Herrn Amerigo Vespucci verdanken soll, nach mir ... na, sagen wir mal Tettinga genannt worden wäre. Tettinga auf Ostborneo! Aber das hat alles nichts mit meinem Talent zu tun. In Balik Papan blieben wir, mit andern Worten Heiland, Loo Holl, Operateur Tober und die halbe Einwohnerschaft von Holländisch-lndien, — blieben wir vier Tage. Ich hatte eine Szene zu spielen, in der Loo Holl mir üblicherweise entrissen wird, ich aber auf meinem Shylock-Schein bestehe und sie reklamiere. Ob dieser Vorgang für einen der Filme, die wir auf der Reise zu drehen haben, bestimmt ist, weiß ich nicht; es ist auch nicht von Bedeutung, denn ich habe mir angewöhnt, alles zu machen, was man von mir verlangt. Ich frage nie, für welchen Film eine Szene bestimmt ist, — ich frage nie, ob ich vor leerem Apparat spiele oder ob wirklich eine Aufnahme von meinen Bemühungen gemacht wird… Ich leide stumm. Und ich litt also stumm auch dieses Mal. Mit geheucheltem Nichtwissen ließ ich mir Loo Holl rauben. Mitten im Urwald. Auf Ostborneo. In der Nachbarschaft von Balik Papan. Dann wendete ich mich zum Apparat um, sah mit irrisierend schöner Ratlosigkeit, die nacheinander Erschrecken und Entsetzen wurde, ins Objektiv Tober drehte ernsthaft drauf los und zählte zehn — zwanzig — dreißig — und als mein Entsetzen sich in Wut verwandelt hatte, stürzte ich in den Urwald, gefolgt von der Rotte Eingeborener. Ich spähte durchs Dickicht, gewahrte Loo Holl irgendwo in greifbarer Nähe, stellte fest, daß ihr Bimbo sie immer noch in räuberischer Absicht umklammerte, und stolperte nun auf das Paar zu, um meine Partnerin programmäßig an mich zu reißen und sie in Sicherheit zu bringen. Kaum aber machte ich den nicht mißzuverstehenden Versuch der Gefangenenbefreiung, als die ganze Sippe Bimbos, Jumbos und Zambas von Ostborneo ihrem bedrängten Landsmann zu Hilfe kam und ihn gegen mich verteidigte. Es war ganz klar, daß sie Loo Holl eher einem der Ihren, als mir gönnten, und ich katzbalgte mich gegen eine rebellierende Schar von Südseeinsulanern ganze zehn Minuten, nein: fünfzehn Minuten, herum, — ehe ich einen Blick rückwärts auf Heiland und Tober werfen konnte. Dieser eine Blick jedoch genügte. Da stand die ganze Bande und wieherte vor Lachen, Tober drehte längst nicht mehr, Heiland führte längst nicht mehr Regie, — und ganz Ostborneo war gegen mich feldmarschmäßig ausgezogen, um mich niederzuringen. „Was ist denn nu los?” polterte ich, natürlich derart bedrängt, daß ich mich immer weiter verteidigen mußte. Heiland schnappte nach Luft und nach Worten: „Warum klärst du denn die Borneoten nicht darüber auf, daß alles nur Spiel ist?” Da hatte er wieder seinen Trumpf in der Hand: Heiland lernt nämlich sämtliche Sprachen des Erdballes, und er verlangt das auch von uns. Ich aber verstand keine Silbe von dem Kauderwelsch dieser meschuggenen Insel. Und sollte nun die Kerls aufklären! „Hilf mir doch, zum Donnerwetter!” brüllte ich. „Sonst trete ich einfach Loo Holl an Borneo ab!” Das schien ihm zu denken zu geben. Trotz der Faustschläge, die ich eins-zwei, eins-zwei unermüdlich wie ein Uhrwerk nach rechts und links auszuteilen hatte, bemerkte ich, wie bekümmert er über meine Drohung war. Und da ließ er sich, um Loo Holls willen, dazu herbei, mich mit einem Zischlaut, der wie eine Zauberformel klang, von meinen Quälgeistern zu befreien. Der Zischlaut klang ungefähr wie „Zwetschgensteine”… wird aber wohl eine schärfere Bedeutung gehabt haben; denn sofort ließen die nackten Kerls von mir ab, und ich setzte mich in den weichen Grasboden, um fast eine halbe Stunde für die Rekonstruktion meiner Gliedmaßen aufzuwenden…

Wie gesagt, ob diese Szene für irgendeinen Film bestimmt war, das weiß nächst dem Himmel nur Heinz Karl Heiland, und ihn habe ich nie ernstlich darüber befragt. Ich hätte mich auch hartnäckig geweigert, sie jemals zu wiederholen. Es genügte mir, daß Heiland, als ich endlich wieder zu mir gekommen war. mir auf die Schultern klopfte und liebevoll sagte: „Warum hast du auch nicht gleich ,Zwetschgensteine’ gerufen? Wer unter Wilden filmen will, muß eben auch dazu Talent haben, mein Junge!”

Das war also in Balik Papan…

In Weltevreden — bitte: Batavia! Sie finden Weltevreden eher auf der Karte, als das verräterische Bimbonest von Borneo! — dort ergab ich mich heimtückischerweise dem Opiumgenuß. Aber nur einmal. Wir besuchten die Opiumfabrik, die dort staatlicherseits verwaltet wird, und kamen selbstredend auch an der Pfeife nicht vorbei, durch die der herrlichste Genuß aller Sphären vermittelt wird. Wenigstens wurde mir dieser Genuß in Aussicht gestellt. Heiland verzichtete darauf. Loo Holl und ich wollten uns aber diesss lockende Zeichen nicht entgehen lassen, setzten uns erwartungsvoll nieder und fingen an, zu saugen. Es ist an dieser Stelle ohne Belang, zu verraten, welche Zigarettenmarke ich rauche, — ich bin auch davon überzeugt, daß bei meiner Rückkehr nach Deutschland alle früheren Marken, die für mich in Betracht kamen, durch andere, neuere ersetzt sein werden, — aber ich kann das Gefühl des Opiuminhalierens nur mit meinem Genuß beim Rauchen der ersten Zigarette meines Lebens, einer Asti stincante zu 1/2 Pfennig, vergleichen. Anstatt der orientalischen Schwelgereien, die mir garantiert worden waren, erlebte ich den schrecklichsten Seegang von allen meinen ostasiatischen Seereisen: kein Rotes Meer der Erde, kein Indischer Ozean, kein Golf von Busento war stürmischer, als das Meer meiner Seele bei der ersten und einzigen Opiumspitze. Wo waren die versprochenen Schleiertänzerinnen, wo der plötzliche Tod all meiner Feinde, wo mein müheloser Sieg über meine Konkurrentin im Film und auf der Bühne? „Sie werden sein der König dieser Erde!” hatte mir der javanische Werkmeister gesagt, und nun war ich schiffbrüchig von Anfang bis Ende! Weltevreden stand in großen Lettern auf dem Stationsschild. Zu deutsch etwa: „Klotzig zufrieden”…, wenigstens verdolmetschte ich mir das so. Und nun lag ich hilfloser als in meinem ersten Lebensmonat auf der Matte und äugle hinüber zu Loo Holl, der ich ein ähnliches Schicksal wünschte, um mich an der Gemeinsamkeit des Unglücks wieder aufrichten zu können. Aber nichts dergleichen geschah: nach einer halben Stunde, vielleicht dauerte es nicht einmal so lange, erhob sich Loo Holl leichtfüßig von den Kissen, sah mich mit einem weichen Blick und schwebte hinaus.

Erst acht Tage darauf, wir waren schon auf dem Wege nach Soerabaja, kam ich auf das Phänomen zurück: „Wie hast du das neulich in Weltevreden bloß fertiggebracht, Loo, daß die Opiumpfeife dir nichts anhaben konnte?” fragte ich. Und sie — leichthin, sorgenlos wie immer — lächelte. „Man muß dazu eben Talent haben”, sagte sie. Dazu? Hm, ich habe nie herausbekommen, wie sie’s gemacht hat. Aber, wenn ich mir’s so recht überdenke, — gesehen, daß sie den Rauch inhalierte, habe ich eigentlich nicht…

Drei Monate durchstreiften wir Borneo und Celebes, — aber nichts hat auf mich bei unserm Hin und Her im Fernen Osten so komisch gewirkt wie das Treiben der wilden Affen, die in unabsehbaren Herden in den Wäldern von Java ihr Wesen treiben. Gewiß sind sie scheu, doch man bekommt immer noch genug Drolliges zu sehen, wenn man heimlicher Zeuge ihrer Flucht durch Palmen und andere Hochbäume wird. Namentlich, sobald sie ihre Jungen bei sich haben, sind sie von einer unübertrefflichen Flinkheit. Wie der Blitz sausen sie von Stamm zu Stamm, schwingen sich an langen Schlinggewächsen, deren Tragfähigkeit sie wunderbar abzuschätzen wissen, von Zweig zu Zweig, und kommt wirklich einmal ein Tier ins Rutschen, so bleibt der Führer der Karawane, der Leitaffe, so lange zurück, bis der gefährdete Kamerad wieder mitten im Rudel und in Sicherheit ist. Wollte man es versuchen, eine solche Herde zu überfallen, so würde es unweigerlich eine schwere Schlägerei und Beißerei zwischen Menschen und Affen geben; selbst Feuergefechte, soweit die Eingeborenen es über sich gewinnen, auf einen Affen zu schießen, enden nicht unbedingt mit dem Siege der Menschen.

Langsam — während ich an diese wenigen Einzelheiten unserer Kreuzfahrt durch Ostasien denke — zieht unser Dampfer seinen Weg nach Aden zu. Noch umgibt uns die traumhafte Weiche des Indischen Ozeans, — aber in Kürze werden wir, nach fast sechsmonatigem Umherirren, den Hafen von Aden anlaufen und einen letzten Blick auf den Orient werfen, um dann mit Riesenschritten, nein — mit jeder Umdrehung unserer Schiffsschraube — der Heimat wieder zuzusteuern. Ob’s ein dolce far niente hier draußen war? Nun, eine Sorglosigkeit war’s, ein gedankenloses Aufgehen in ununterbrochener, fast automatischer Arbeit: der Tisch wurde täglich gedeckt, und da wir von Krankheiten verschont blieben, dachte niemand an die morgigen Aufgaben, an die morgigen Gefahren und Ueberraschungen. Aber im Grunde war’s doch eine Strapaze, eine wilde, schöne Strapaze, die ich in meinem Leben kaum je missen möchte. Nur von einem, von dem vor meiner Abreise oft gesprochen wurde, von den Giftschlangen, müßte ich noch einmal reden, doch soll’s nicht heute sein. Warten wir, bis ich die Schiffsplanken nicht mehr unter mir habe und mir zum Schreiben mehr Muße bleibt. Warten wir vor allem bis zu dem Augenblick, wo mir Heinz Karl Heiland nicht mehr sagen kann: „Aus dir wird nie ein ordentlicher Schauspieler werden, mein Junge!”

Fotos:

  • A: —
  • B: Auf Celebes — Im Hintergrunde der Palast des Sultans von Macassar
  • C: Ein Chinesentempel in Macassar
  • D: Carl W. Tetting vor einem Tempeleingang in Yokohama

Collection: Filmland Magazine, November 1924

Carl W. Tetting’s East Asia diary:

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